Unter Ototoxizität versteht man die schädigende Wirkung von Substanzen auf das Innenohr oder den Hirnnerv N. vestibulocochlearis. Eine Vielzahl von Arzneistoffklassen kann ototoxische Effekte auslösen: Besonders sind hierbei die Aminoglykosid-Antibiotika sowie Chemotherapeutika zu nennen. In seltenen Fällen ist die schädigende Wirkung jedoch erwünscht, etwa bei der Behandlung von Morbus Menière.
Arzneimittelbedingte Schäden können sich als Hörverlust, Gleichgewichtsstörungen oder Tinnitus äußern. Die Symptome können wieder abklingen, aber zum Teil auch irreversibel sein.
Man unterscheidet zwischen der Cochleotoxizität (Schädigung des Hörsinns) und der Vestibulotoxizität (Beeinträchtigung des Gleichgewichts). Die zugrunde liegenden Mechanismen sind noch nicht vollständig geklärt. Ein Hörverlust kann teilweise unbemerkt bleiben, weshalb nach der Behandlung mit potenziell ototoxischen Arzneimitteln ein Hörtest empfohlen wird.
Besondere Vorsicht ist erforderlich, wenn mehrere ototoxische Arzneistoffe kombiniert werden oder eine eingeschränkte Nierenfunktion besteht. Beides erhöht das Risiko erheblich. Faktoren wie die Höhe der Dosierung und die Therapiedauer beeinflussen das Risiko zusätzlich.
Liegt eine Trommelfellperforation vor, dürfen ototoxische Substanzen nicht lokal (z. B. als Ohrentropfen oder -salbe) verabreicht werden, da sie direkt in das Innenohr gelangen können.
Aminoglykosid-Antibiotika
Gut untersucht sind die ototoxischen Schäden durch Aminoglykosid-Antibiotika wie Gentamicin, Neomycin, Streptomycin, Amikacin und Tobramycin. Sie führen meist zu Störungen im Bereich höherer Frequenzen.
Frühere Annahmen gingen davon aus, dass diese Substanzen die Bildung des Second Messengers Inositoltrisphosphat (IP₃) hemmen und dadurch die Motilität der äußeren Haarzellen blockieren. Heute weiß man, dass das Motorprotein Prestin für deren Bewegung verantwortlich ist. Neue Erkenntnisse deuten darauf hin, dass Aminoglykoside in Haarzellen Komplexe mit Membranlipiden und Eisenionen bilden. Dies führt zur Bildung reaktiver Sauerstoffspezies und zu oxidativem Stress, der eine vermehrte Apoptose der Haarzellen auslösen dürfte.
Aufgrund der schlechten gastrointestinalen Resorption werden etwa Amikacin oder Tobramycin meist intravenös verabreicht. Lokal eingesetzt werden beispielsweise Gentamicin oder Neomycin.
- Neomycin wirkt überwiegend cochleatoxisch
- Gentamicin und Tobramycin beeinträchtigen sowohl Hörfunktion als auch das Gleichgewicht
Auch Makrolid-Antibiotika wie Erythromycin können, wenn auch selten, ototoxische Symptome über das gesamte Frequenzspektrum verursachen.
Chemotherapeutika
Chemotherapeutika wie Cisplatin oder Teicoplanin können Tinnitus, Hörminderungen oder sogar dauerhafte Schäden auslösen. Laut Beipacktext wurde „bei einem Drittel der Patienten, die eine Cisplatin-Einzeldosis erhielten, schwerwiegende toxische Wirkungen auf Niere, Knochenmark und Ohren dokumentiert“. Die ototoxische Wirkung ist dosisabhängig und kumulativ. Besonders Kinder sind gefährdet, da ihr Innenohr empfindlicher reagiert.
Auch hier dürfte die Bildung freier Sauerstoffradikale eine zentrale Rolle bei der Schädigung der Haarzellen spielen.
Diuretika
Beim Schleifendiuretikum Furosemid wurden gelegentlich reversible Hörstörungen beobachtet. Dies geschah sowohl nach oraler als auch nach intravenöser Gabe. In seltenen Fällen trat auch irreversible Taubheit auf, besonders bei Patienten mit einer Niereninsuffizienz oder bei zu schneller intravenöser Verabreichung. Furosemid verursacht strukturelle Veränderungen im Epithel der Stria vascularis, was das endocochleäre Potenzial und damit das Hörvermögen beeinträchtigt.
NSAIDs
Bei hohen Dosen von Acetylsalicylsäure (2–3 g täglich) gelten Tinnitus und Hörminderung als typische Zeichen einer Salicylat-Überdosierung. Diese Symptome betreffen vor allem den unteren und oberen Frequenzbereich (unter 10 kHz bzw. über 20 kHz) und treten besonders häufig bei älteren Menschen auf. Das Hörvermögen regeneriert sich meist innerhalb von rund drei Tagen nach Absetzen. Bei einer langfristigen Hochdosistherapie kann die Schädigung jedoch auch irreversibel sein. Vermutlich liegt der Mechanismus in einer Vasokonstriktion der Kapillaren aufgrund der COX-Hemmung mit nachfolgender Reduktion der Prostaglandinsynthese, was die Durchblutung der Haarzellen vermindert.
Morbus Menière: Schädigung erwünscht
Bei Morbus Menière wird in schweren Fällen bewusst ein vestibulotoxischer Effekt therapeutisch genutzt. Es handelt sich hierbei um eine Erkrankung des Innenohrs, die anfallsartig mit Drehschwindel, Hörminderung und Tinnitus einhergehen kann.
Ziel ist es, durch die gezielte Ausschaltung des überaktiven Gleichgewichtsorgans die belastenden Symptome wie Schwindel zu reduzieren. Dazu kann Gentamicin durch das Trommelfell hindurch (intra- oder transtympanal) appliziert werden. Der Wirkstoff diffundiert in das Gleichgewichtsorgan und führt dort zu einer irreversiblen Funktionsreduktion. Der Eingriff wird nur bei starkem Leidensdruck und unter strenger Nutzen-Risiko-Abwägung durchgeführt.
