Eine aktuelle Studie der Abteilung für Gesundheitsökonomie am Zentrum für Public Health der Medizinischen Universität Wien zeigt erstmals umfassend, in welchem Ausmaß Menschen mit psychischen Störungen körperlich erkranken – und welche Krankenhauskosten dadurch entstehen. Stationäre und notfallmäßige Behandlung von körperlichen Begleiterkrankungen bei Alkoholkonsumstörungen, Depressionen, bipolaren Störungen und Schizophrenie 2019 in Europa verursachen insgesamt rund 30,5 Milliarden Euro an zusätzlichen jährlichen Krankenhauskosten.
Diese Kosten werden nicht durch die psychiatrische Versorgung selbst verursacht, sondern durch körperliche Erkrankungen, die bei psychisch Erkrankten überdurchschnittlich häufig auftreten und vielfach stationär oder in der Notaufnahme behandelt werden müssen. Besonders häufig sind das Verletzungen, etwa infolge von Stürzen, Substanzkonsum oder Suizidversuchen, sowie Erkrankungen des Verdauungstrakts wie Leberleiden oder chronische Entzündungen, die insbesondere bei Alkoholkonsumstörungen eine große Rolle spielen. Auch Erkrankungen des Nervensystems, Atmungssystems, Bewegungsapparats oder Herz-Kreislauf-Systems treten bei Menschen mit psychischen Erkrankungen deutlich häufiger auf. Die Folge sind oft längere und intensivere Behandlungen im Krankenhaus, die mit erheblichen Mehrkosten für die Gesundheitssysteme einhergehen. Wie die Studie zeigt, entfällt zwar der größte Teil dieser Kosten aufgrund der hohen Inzidenz auf Alkoholkonsumstörungen und Depressionen, doch ist der Anteil der überdurchschnittlichen Kosten bei Alkoholkonsumstörungen und bipolaren Störungen am höchsten.
Enormes Einsparungspotential
Neben diesen neuen Einblicken in die Kosten liefert die im “The Lancet Psychiatry” veröffentlichte Studie erstmals auch Schätzungen zum wirtschaftlichen Einsparungspotenzial: Eine Reduktion der körperlichen Krankheitslast bei Menschen mit psychischen Erkrankungen um nur ein Prozent würde europaweit zu jährlichen Einsparungen von über 190 Millionen Euro im Krankenhausbereich führen. „Die von uns ermittelten Zahlen unterstreichen die Bedeutung integrierter Präventions- und Versorgungsansätze, bei denen körperliche und psychische Gesundheit nicht getrennt voneinander betrachtet werden“, betont Studienleiterin Judit Simon, Professorin für Gesundheitsökonomie am Zentrum für Public Health der MedUni Wien. „Eine bessere Verzahnung psychiatrischer und somatischer Versorgung kann nicht nur die Lebensqualität von Menschen mit psychischen Erkrankungen verbessern, sondern auch zur Nachhaltigkeit der Gesundheitssysteme beitragen.“
Psychische Erkrankungen sind mit einem deutlich erhöhten Risiko für körperliche Erkrankungen verbunden. Diese sogenannten Komorbiditäten sind oft das Ergebnis einer Kombination aus biologischen, sozialen und versorgungsbezogenen Faktoren. Für das Jahr 2019 ergab die aktuelle Studie in den 27 EU-Mitgliedstaaten sowie Island, Liechtenstein, Norwegen, der Schweiz und dem Vereinigten Königreich 21,2 Millionen Fälle von Alkoholkonsumstörungen, die mit 84 Millionen körperlichen Begleiterkrankungen verbunden waren. Des Weiteren wurden 7,4 Millionen Fälle von bipolaren Störungen mit 66,8 Millionen Komorbiditäten, 32 Millionen Fälle von Depressionen mit 66,2 Millionen zusätzlichen physischen Problemen sowie drei Millionen Fälle von Schizophrenie mit 4,9 Millionen körperlichen Erkrankungen festgestellt. Die Modellstudie stützt sich auf Daten der European Statistical Agency, der „Global Burden of Disease“-Studie, länderspezifischer Gesundheitsstatistiken sowie einer umfangreiche Synthese bestehender Forschungsergebnisse und berücksichtigt die Altersgruppe der erwerbsfähigen Bevölkerung (20 bis 64 Jahre).
MEDUNI WIEN