Politik, Industrie und Wissenschaft an einem Tisch: Bei einer hochkarätig besetzten Diskussionsrunde in Wien trafen Gesundheitssprecher:innen verschiedener Parteien auf eine Gesundheitsökonomin und einen Vertreter der pharmazeutischen Industrie, um über Chancen, Hürden und neue Wege in der Versorgungspolitik zu sprechen. Der Abend brachte klare Forderungen nach mehr Effizienz, Durchblick bei den Kosten und einer überfälligen Reform der Zuständigkeiten wie etwa dem Impfen in Apotheken.
Beim PMCA-Impuls am 20. Mai trafen die Gesundheitssprecher:innen der Regierungsparteien Juliane Bogner-Strauß (ÖVP), Rudolf Silvan (SPÖ) und Fiona Fiedler (NEOS) auf den Präsidenten des Forums der forschenden pharmazeutischen Industrie in Österreich (FOPI) Leif Moll und Gesundheitsökonomin Anna Vavrovsky, um über neue Ansätze in der Versorgungspolitik zu sprechen.
Status Quo – Wo steht das Gesundheitssystem?
Auf die Frage, wo das aktuelle Gesundheitssystem stehe und was es für die Zukunft brauche, antwortet Bogner-Strauß: „Von außen betrachtet ist unser Gesundheitssystem super. Ich denke da an Menschen, die nach einem Unfall im Urlaub froh sind, wieder zuhause in Österreich zu sein. Wir haben ein gutes System. Aber von innen betrachtet sieht man: Das System beginnt zu bröckeln.“ Viele Menschen warten mehrere Wochen auf Operationstermine, die immer wieder verschoben werden. Dadurch müssten einige länger im Krankenstand bleiben und würden vermeidbare Zusatzkosten verursachen, fügt sie hinzu.
Silvan meint dazu: „Wir haben in Österreich eine Vielzahl von Finanzströmen der einzelnen Sozialversicherungen. Diese müssen gebündelt werden. Weiters gibt es auch viele Doppeluntersuchungen, weil das Spital etwa mit seiner veralteten Software die modernen Bilder des Facharztes nicht öffnen kann.“ Hier müsse man ansetzen und Abläufe optimieren. Über die derzeitigen Problematiken im Gesundheitssystem sagt er: „Wir sind uns in der Regierung dieser Ernsthaftigkeit bewusst. Ich bin zuversichtlich, dass wir in den nächsten fünf Jahren die Eckpunkte schaffen.“
„Derzeit haben wir ein teures System mit wenig Effizienz“, meint Fiedler dazu. Sie sehe Positives an bestehenden Screeningverfahren im Eltern-Kind-Pass, sehe aber Nachholbedarf bei der Krankheitsprävention und den Arbeitsbedingungen für das Pflegepersonal.
Was ist die günstigste Therapie?
Die Gesundheitsökonomin Vavrovsky kreidet an, dass indirekte Kosten derzeit keine Rolle in der Bewertung der Effektivität von Arzneimitteln spielen würden und somit nicht immer die objektiv günstigste Therapieform erstattet werden würde.
Auch die Industrie brauche ein nachhaltiges Gesundheitssystem, betont Moll. „Derzeit sehen wir in der forschenden pharmazeutischen Industrie, dass Europa immer weiter mit seinen klinischen Studien zurückfällt. In den letzten drei Jahren wurden in Österreich um 28 Prozent weniger Studien durchgeführt.“ Man müsse sich überlegen, wie man künftig Produktionen, klinische Studien und Investitionen nach Österreich bringe, erklärt er weiter.
Auf die Innovationen am österreichischen Markt angesprochen, berichtet Moll: „Im Spitalsbereich sind wir bei innovativen Therapien eigentlich sehr gut aufgestellt. Extramural haben wir uns in einer Studie damit befasst, wie lange es dauert, bis die Innovation in Österreich ankommt. Mit ungefähr 14 Monaten ist das im Europaschnitt auch in Ordnung. Zunehmend sehen wir aber Probleme mit den erhöhten Verschreibungseinschränkungen und nicht weiter gegebenen Indikationserweiterungen im Erstattungscodex (EKO). Dadurch können die Arzneimittel auch gar nicht von den Ärzten verschrieben werden. Da liegen wir eher im Mittelfeld.“
Lösungsansätze: Wie soll das Solidarsystem künftig finanzierbar sein?

Für Gesundheitsökonomin Vavrovsky ist es wichtig, dass „der richtige Patient, die richtige Therapie zum richtigen Zeitpunkt erhält.“ Sie fährt fort: „Leistung soll billiger werden, wenn es geht, und wenn sie obsolet ist, soll sie gestrichen werden. Es soll zu einer Maximierung des Gesundheitsgewinns kommen, jedoch ohne Nachteile für die Bevölkerung.“
„Große Patientenzahlen zwingen zum Umdenken“
Dabei sei es vor allem auch wichtig, indirekte Kosten in die Nutzenberechnung eines Medikaments mit einzubeziehen. Als Beispiel nennt sie die GLP-1-Rezeptoragonisten Ozempic, Wegovy und Mounjaro, die eine große Patientenzahl betreffen: „Die Therapiekosten mögen zwar höher sein, doch wenn man die indirekten Folgekosten durch eine Nichtbehandlung berücksichtigt, fällt die Bewertung deutlich anders aus.“ Sie verweist hier auf die Vorreiterrolle Englands mit dem National Institute for Health and Care Excellence (NICE). „Aufgabe des NICE ist es, die Kosten-Nutzen-Effektivität von Arzneimitteln und Therapien zu bewerten. Dabei fließen auch indirekte Kosten in die Entscheidungen ein. Dabei handelt es sich um Faktoren wie weniger Krankenstandstage, reduzierte Folgetermine beim Arzt oder geringere Ausgaben für Kuren. Bei der Verabreichung von GLP-1-Analoga fallen pro Jahr fünf Krankenstandstage weniger. Behandelte gewinnen außerdem rund zwölf Tage an unbezahlter Produktivität, etwa für Kinderbetreuung oder ehrenamtliche Tätigkeiten.“ Diese enormen Auswirkungen dürfen nicht unbeachtet bleiben und haben einen wirtschaftlichen Nutzen, betont sie.
„Die Anhebung der Krankenversicherungsbeiträge der Pensionisten um 0,9 Prozentpunkte hat dem Gesundheitssystem zusätzliche 400 Millionen Euro eingebracht. Es ist wichtig, das Geld dann nicht sinnlos im System zu verbrennen“, berichtet Gesundheitssprecher Silvan. Künftig wird es wichtig sein, in Arbeitsgruppen sinnvolle Einsatzmöglichkeiten zu finden. Er könne sich zudem vorstellen, dass zusätzliche Einnahmen durch Versteuerung von KI-gestützter Wertschöpfung lukriert werden könnten, denn „KI liefert keine Sozialversicherungsbeiträge“.
Fiedler betont zum Einsparungspotenzial: „Wir haben viele kleine Systeme, die nicht miteinander kommunizieren. Das müssen wir vereinheitlichen, um so das System entlasten.“ Bürokratie solle zum Vorteil aller reduziert werden und mehr Zeit für die eigentliche Arbeit schaffen.
Bogner-Strauß sieht auch die Bevölkerung in der Selbstverantwortung: „Rund 80 Prozent der Rettungsfahrten sind Krankentransporte. Das ist ein enormer Anteil.“ Mehr gegenseitige Solidarität und familiäre Achtsamkeit könnten auch hier zur Entlastung beitragen.
Ultima Ratio: Finanzierung aus einer Hand
Die Ultima Ratio sei laut Vavrovsky „die Finanzierung aus einer Hand“. Da dies aber nicht immer sofort möglich sei, könne man sich zunächst die skandinavischen Länder als Vorbild nehmen. Hier würde wieder die Bewertung indirekter Kosten wichtig sein: „Bevor dort ein Arzneimittel in die Erstattung gebracht wird, muss zuvor auch eine Analyse der indirekten Kosten erfolgen. Das bringt auch Vorteile für Österreich“
Auch in puncto Effizienz sei hier wieder England zu nennen: „Die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und den Behörden sieht hier gemeinsame ‚Check-Points‘ vor. Es erfolgt zum Beispiel eine Rücksprache über gegenseitig benötigte Analysen.“
Um effizient Kosten zu sparen, brauche es auch angepasste Kompetenzen, sind sich alle einig. Fiedler berichtet: „Geschulte ‚Community Nurses‘ könnten Notfälle vorab evaluieren oder Verbände wechseln und somit Ärzte entlasten. Sie haben diese Kompetenz bereits durch ihre Ausbildung, dürfen sie aber gesetzlich noch nicht anwenden.“ Eine Klärung dieser Rechtsfragen wäre notwendig, zeigt sie auf.
Kompetenzerweiterung: Impfen in Apotheken
Auch das Thema Impfen in Apotheken wurde im Zusammenhang mit der Ausweitung von Kompetenzen diskutiert. Bogner-Strauß meint in diesem Zusammenhang: „Es gibt sehr viele Stakeholder, die im Gesundheitsbereich mitreden. Mir kommt es manchmal vor wie am Bazar, einem Tauschhandel. Wenn ich dir das gebe, möchte ich etwas anderes haben.“ Die Ausbildungsinhalte würden zwar angepasst werden, die Kompetenz-verteilungen jedoch nicht.
Fiedler fügt hinzu: „Jeder will etwas dafür haben, dass er ein Stück seiner Kompetenz abgibt. Dabei sollte es eigentlich das Hauptargument zählen, dass wir dadurch eine höhere Durchimpfungsrate erzielen können.“ Die Politik versuche hier als Vermittler aufzutreten und das Beste für die Bevölkerung zu erzielen.
Am Ende der Diskussion herrscht Einigkeit unter den Politiker:innen: Man müsse Sicherheit geben und Vorschriften praxistauglich machen. Alte Strukturen gehören aufgebrochen, direkte und indirekte Kosten gemeinsam bewertet und alle Akteure müssen stärker an einem Strang ziehen.