Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat Betreibern von telemedizinischen Plattformen einen weit reichenden Freibrief erteilt: Sie müssen sich nicht an die Gesetze halten, die im jeweiligen Land des Patienten gelten. Stattdessen dürfen sie Ärztinnen und Ärzte einspannen, um erforderliche Leistungen vor Ort abwickeln zu lassen. Und diese müssen noch nicht einmal einen Vertrag mit der Patientin oder dem Patient haben.
Im Streit ging es um die Plattform „Dr Smile“, über die man als Verbraucher transparente Zahnschienen beziehen kann. Um die erforderlichen Voruntersuchungen anbieten zu können, arbeitet die Betreibergesellschaft Urban Technology aus Berlin mit der Praxiskette „DZK Deutsche Zahnklinik“ zusammen. Beide Unternehmen gehörten zunächst zum Dentalkonzern Straumann und wurden vor einem Jahr von der spanischen Impress-Gruppe gekauft. Außerdem gibt es für die Erstgespräche in verschiedenen Städten externe Partnerzahnärzte – die nachfolgenden Behandlungsschritte werden dann ohne den beteiligten Arzt telemedizinisch über die App abgewickelt: Die Behandelten schicken hierzu regelmäßig Bilder ihrer Zähne an die DZK, um den Verlauf zu dokumentieren.
Auch in Österreich ist „Dr Smile“ aktiv geworden, ohne dabei den hiesigen Vorschriften allzu große Beachtung zu schenken. Die Zahnärztekammer (ÖZK) sah dagegen in dem Modell eine Umgehung des österreichischen Zahnärztegesetzes, das klar regelt: Zahnmedizin darf nur von Personen mit entsprechender Befugnis ausgeübt werden – und auch nur in Österreich selbst. Die beiden deutschen Unternehmen seien also – trotz Zulassung in Deutschland – nicht dazu befugt, in Österreich zahnärztliche Leistungen zu erbringen.
Die ÖZK klagte daher gegen eine für „Dr Smile“ tätige Zahnärztin, die im Rahmen des Konzepts in ihrer Praxis in Klagenfurt die Anamnese, die Erstberatung und die diagnostischen Vorarbeiten übernahm und die Ergebnisse an DZK schickte. Einen Vertrag mit den behandelten Patienten gab es nicht; stattdessen wurde sie für ihre Arbeit von der deutschen Kette vergütet. Da die Fernbehandlung nicht zulässig sei, dürfe die Zahnärztin daran nicht mitwirken, so die Kammer, die zuvor schon einen Kollegen aus Wien erfolgreich verklagt hatte. Die Medizinerin argumentierte, sie führe ihre Tätigkeiten unmittelbar und persönlich sowie weisungsunabhängig durch.
Das Landgericht Klagenfurt wies die Klage ab, das Oberlandesgericht Graz gab ihr dagegen statt. Der Oberste Gerichtshof legte die Sache schließlich beim EuGH vor.
EuGH trennt Behandlung auf
Die Richter in Luxemburg kamen jetzt zu dem Ergebnis, dass unter den Begriff der Telemedizin nur Gesundheitsdienstleistungen fallen, die ohne gleichzeitige physische Anwesenheit von Patient und Gesundheitsdienstleister am selben Ort, sondern ausschließlich mit Hilfe von Informations- und Kommunikationstechnologien erbracht werden. Dies gelte nicht nur unter dem Aspekt der Kostenübernahme, sondern auch für die rechtliche Bewertung insgesamt.
Daher müsse im konkreten Fall zwischen denjenigen Leistungen, die die Zahnärztin erbringe, und denjenigen, die im Wege der Fernbehandlung erfolgen, unterschieden werden: Während für die Behandlung vor Ort die österreichischen Vorgaben entscheidend seien und sich die Zahnärztin auch daran halten müsse, gelten laut EuGH für telemedizinische Leistungen die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem der Plattformbetreiber ansässig ist – im konkreten Fall also Deutschland.
Beide Aspekte gehörten zwar zur selben komplexen Behandlung, seien aber rechtlich getrennt zu betrachten. Die Vorschriften zur Anerkennung von Berufsqualifikationen, auf die sich die Kammer noch berufen hatte, seien in dieser Gemengelage nicht einschlägig.
Heißt im Klartext: Betreiber von telemedizinischen Plattformen können ihr Geschäft aus Ländern heraus betreiben, in denen ihnen die Vorschriften besonders günstig erscheinen. Das an sich ist zwar nicht neu: Dass nicht die Vorschriften im Land des Patienten gelten, sondern diejenigen des Landes, in dem der Betreiber seinen Sitz hat, ist in der entsprechenden EU-Richtlinie klar geregelt. Genau darauf beziehen sich seit Jahren die Betreiber von Plattformen wie Zava und Go Spring, auf denen man sich nach Ausfüllen eines Fragenbogens Rezepte für verschreibungspflichtige Medikamente besorgen kann. Weil das in Irland beziehungsweise Großbritannien erlaubt ist, kann es in Deutschland nicht verboten sein, so die Logik.
Keine Kontrolle für Mitgliedstaaten
Neu ist jetzt die Lesart, dass sich die Plattformen auch Partner vor Ort suchen können, die sie mit der Übernahme von nicht für die Fernbehandlung geeigneten Leistungen beauftragen und die sie für ihre Arbeit bezahlen, ohne dass diese einen eigenen Behandlungsvertrag mit den Patientinnen und Patienten bräuchten. Auf diese Weise können also auch komplexe Leistungen erbracht werden, solange sich die Erfüllungsgehilfen an die für sie geltenden Vorgaben halten.
Damit wird es für die Mitgliedstaaten schwierig bis unmöglich, Plattformen zu überwachen und ihnen unter Umständen aus Gründen des Patientenschutzes einen Riegel vorzuschieben. In allen anderen Zweigen der Gesundheitsversorgung gilt übrigens das Bestimmungslandprinzip – einschließlich des Versandhandels mit Arzneimitteln.