Die Österreichische Ärztekammer macht auf die drohende Verschärfung der Medikamentenengpässe aufmerksam. Dr. Johannes Steinhart, Präsident der Österreichischen Ärztekammer, und Dr. Ernst Agneter, Facharzt für Pharmakologie und Präsident der Gesellschaft der Ärzte in Wien, erläutern, welche Lösungsansätze den Engpässen entgegenwirken könnten und warum die diskutierte Wirkstoffverschreibung ein fataler Fehler ohne Einsparungspotenzial wäre.
„Dass regelmäßig Arzneimittel fehlen, ist in einem Land wie Österreich nicht akzeptabel. Gerade im Winter fehlen zunehmend Schmerzmitteln, Antibiotikasäfte oder Hustensäfte für Kinder“, empört sich Dr. Johannes Steinhart, Präsident der Österreichischen Ärztekammer, im Rahmen der heutigen Pressekonferenz.
Leider würden aktuelle Entwicklungen für die nähere Zukunft eine Fortschreibung dieser Mangelwirtschaft oder sogar noch eine Verschärfung der Lage erwarten lassen. „Zum einen ist da das neue Preisband für Arzneimittelspezialitäten, das den Preisdruck auf die Hersteller weiter erhöht. Diese österreichische Eigenheit soll dafür sorgen, dass Medikamente
hierzulande günstig angeboten werden, hat aber dazu geführt, dass Österreich international als „Billigland” für Medikamente gilt”, so Steinhart.
„Wem nützt es außer den Apothekern?“
Ein weiterer fataler Fehler wäre es nun, die Wirkstoffverschreibung in Österreich einzuführen, wie es von der Politik in regelmäßigen Abständen aufs Tapet gebracht werde und wie es Funktionäre der Apothekerkammer vielfach fordern würden. „Dieses Konzept bedeutet, dass Ärztinnen oder Ärzte einer Patientin oder einem Patienten statt einem bestimmten Präparat nur noch den Wirkstoff verschreiben. Welches Medikament die Patienten dann in der Apotheke erhalten, unterliegt der Entscheidung des Apothekers – unabhängig davon, was der Arzt vorher mit dem Patienten besprochen hat.“
Steinhart befürchtet, dass die Auswahl der Präparate nicht an die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten angepasst wäre, sondern an Überlegungen wie Lagerhaltungskosten oder Gewinnspannen. „Der Patient muss im Mittelpunkt stehen und das wirtschaftliche Interesse muss bei Seite bleiben“, fügt er hinzu.
Weiters würde die Compliance, also die Therapietreue, der Patient:innen unter einer Wirkstoffverschreibung leiden, da diese sich zumal „oft nur an der Tablettenform und -farbe sowie der Verpackung“ orientieren würden.
Bezüglich der Wirkstoffverschreibung fügt Agneter hinzu: „Hier ist für mich immer die Frage: Cui Bono? Wem nutzt die Verschreibung von Wirkstoffen, außer den Apotheken? Den Patienten ganz sicher nicht.“
Die Verunsicherung der Patient:innen aufgrund der Medikamentenwechsel würde steigen und die Gefahr der Verwechslung vonTabletten zunehmen. Aufgrund der bereits zahlreich vorhandenen Preisregulationsmechanismen, wie dem erwähnten Preisband, seien weiters keinerlei Einsparungen durch eine Wirkstoffverschreibung zu erwarten, erläutert Agneter.
Preispolitik schiefgelaufen
„Einerseits wird die fehlende Lieferbarkeit zahlreicher wichtiger, für die Versorgung der Patienten notwendiger Medikamente beklagt. Andererseits werden immer neue Maßnahmen zur Preisreduktion und darüber hinaus gesetzliche Anforderungen wie die Verordnung zur Arzneimittelbevorratung oder die kommunale Abwasserrichtlinie beschlossen”, erklärt Agneter. Als Konsequenz würden aktuell durchschnittlich 20 Generika-Arzneimittel pro Monat den Erstattungskodex in Österreich verlassen, weil ihre Herstellung trotz Erstattung nicht mehr wirtschaftlich sei.
„In der Preispolitik ist etwas schiefgelaufen. Preissenkungen sind sinnvoll, aber sie müssen mit Augenmaß erfolgen“, äußert sich Agneter über die Entwicklung in Österreich.
Seit Oktober 2023 gilt in Österreich ein verschärftes Preisband für Generika: Der Preis eines neuen Medikaments darf nun höchstens 20Prozent über dem der jeweils günstigsten, wirkstoffgleichen Arzneispezialität in der niedrigsten verfügbaren Stärke liegen. Zuvor lag diese Grenze bei 30 Prozent und wurde für jede Wirkstoffstärke einzeln berechnet. Nun dient immer die niedrigste Dosierung als Referenz für alle Stärken, was den Preisdruck auf die Hersteller weiter erhöht und die Aufnahme neuer Medikamente in den Erstattungskodex erschwert. „Die Rechnung geht nicht auf. Ein Präparat mit vierfacher Konzentration kann nicht annähernd gleich viel kosten, wie ein Präparat, das nur ein Viertel des Arzneistoff beinhaltet“, erklärt Agneter.
Lösungsvorschläge: Produktion in EU, Schluss mit Niedrigpreisen
Aufgrund der volatilen Weltlage müsse für eine Liefersicherheit gesorgt werden, so Steinhart. „Die Produktion von Medikamenten und Medizinprodukten muss nach Österreich oder zumindest nach Europa zurückgeholt werden. Die Unabhängigkeit Europas bei der Medikamentenversorgung muss sichergestellt werden – auch wenn das mit zusätzlichen Kosten verbunden ist.“
Ebenso dürfe es nicht zu Lieferengpässen und Versorgungskrisen kommen, weil die Politik den Medikamentenherstellern in mehreren Bereichen ein kostendeckendes Wirtschaften erschwert oder unmöglich macht. „Durch unsere Niedrigpreis-Politik macht sich Österreich nicht interessant für Anlieferungen von Medikamenten. Wir dürfen uns nicht an Medikamentenknappheit und Mangelwirtschaft gewöhnen. Medikamente müssen uns allen wieder etwas wert sein”, erklärt Steinhart.
PHARMIG fordert faire Preise
Auch Alexander Herzog, Generalsekretär des Verband der pharmazeutischen Industrie Österreichs (PHARMIG), spricht sich für eine faire Preispolitik aus.
„Engpässe sind das Ergebnis einer Niedrigpreispolitik. Wenn Arzneimittelpreise durch gesetzliche Regelungen niedrig gehalten oder sogar noch weiter nach unten gedrückt werden, dann wirkt sich das negativ auf die Versorgungsqualität aus.“ Eine Wirkstoffverschreibung befindet die PHARMIG ebenfalls nicht für zweckmäßig, denn “diese würde die Probleme der Medikamentenversorgung nicht lösen, sondern nur vergrößern”, ist man sich sicher.