Was als Abnehmtipp begann, entwickelte sich im März 2024 durch ein libanesisches Paper zu einem viralen Internet-Trend: Die Studie berichtete von einer signifikanten Gewichtsreduktion von sechs bis acht Kilogramm bei einer täglichen Einnahme von 5 bis 15 Milliliter Apfelessig. Daraufhin kursierten in den sozialen Medien zahlreiche Berichte über angebliche Abnehmerfolge und diverse Heilversprechen rund um Apfelessig. Schon kurz darauf geriet die Studie allerdings massiv in die Kritik und wurde schließlich im September 2025 offiziell zurückgezogen.
Auslöser: Libanesische Studie
Was früher auf dem Salat landete, gilt nun vielerorts als natürliches Multitalent: Apfelessig. Er soll beim Abnehmen helfen, die Verdauung fördern und den Blutzuckerspiegel regulieren.
Auslöser für den Apfelessig-Boom war eine im Fachjournal BMJ Nutrition, Prevention & Health veröffentlichte libanesische Studie „Apple Cider Vinegar for Weight Management in Lebanese Adolescents and Young Adults with Overweight and Obesity“. Sie postulierte, dass Apfelessig junge Menschen mit Übergewicht signifikant beim Abnehmen unterstützen könne.
In der Studie wurden 120 übergewichtige junge Erwachsene in vier Gruppen aufgeteilt. Drei Gruppen tranken täglich 5, 10 oder 15 Milliliter Apfelessig, die vierte ein Placebo mit Milchsäure. Laut Angaben enthielt der Apfelessig 5 Prozent Essigsäure und wurde in 250 Milliliter Wasser verdünnt und täglich auf leeren Magen getrunken. Nach zwölf Wochen wurde ein signifikanter Gewichtsverlust bei den Apfelessig-Gruppen gemessen, der sechs bis acht Kilogramm betragen haben soll. Der größte Effekt zeigte sich scheinbar in der Gruppe mit 15 Milliliter täglich; die Autor:innen sprachen von einer dosisabhängigen Wirkung. Sie führten die beobachteten Effekte auf den Einfluss der Essigsäure und enthaltenen Flavonoide zurück.
Frühe Kritik: Stichproben und Studiendauer
Kritiker:innen merkten jedoch früh an, dass die Stichprobengröße gering und die Studiendauer mit zwölf Wochen sehr kurz war. Zudem fehlte ihnen eine Kontrollgruppe mit anderen Essigarten, und der physiologische Wirkmechanismus wurde nicht überzeugend erklärt.
Internet-Trend und Influencer:innen
In den sozialen Medien verbreitete sich der Trend mit Apfelessig zum Abnehmen besonders stark durch Influencer:innen. Sie warben mit den vermeintlich positiven Effekten von Apfelessig auf den Blutzuckerspiegel und das Abnehmen. Auf Fragen in Interviews wie: „Welche ‚Geheimzutat‘ gibt es, die es erlauben soll, weiterhin Dessert zu essen und dennoch in den Fettverbrennungszustand zu gelangen?“ finden sich Antworten wie: „Man soll einen Teelöffel Apfelessig in einem großen Glas Wasser auflösen und vor einer Mahlzeit trinken, dann kann die Glukosespitze um bis zu 30 Prozent reduziert werden. Dadurch hat das Essen, ohne Änderungen der Ernährung, weniger Auswirkungen auf den Körper.“
Solche Aussagen führten dazu, dass Apfelessig zunehmend auch als Nahrungsergänzungsmittel in Pulverform vermarktet wurde. Die Einnahme der Kapseln soll laut Versprechungen bei Verdauungsstörungen, Kopfschmerzen, hohem Cholesterin, Bluthochdruck, Diabetes, Hämorrhoiden und sogar Asthma helfen. Besonders beworben wird jedoch die „fettverbrennende“ und „entgiftende“ Wirkung.
Die Verbraucherzentrale weist darauf hin, dass die beworbenen „natürlichen Vitamine“ in Apfelessig-Kapseln in höheren Mengen nur durch Zusatz enthalten sind. Denn Apfelessig enthält je nach Herstellungsprozess nur minimale Mengen an Nährstoffen und leistet in den geringen aufgenommenen Mengen keinen relevanten Beitrag zum Tagesbedarf.
Zweifel und Rückzug der Studie
Schon kurz nach Veröffentlichung meldeten sich Forschende, die Auffälligkeiten in den veröffentlichten Daten der libanesischen Studie bemerkten. Zusätzlich zu der kritisierten kurzen Studiendauer und geringen Teilnehmerzahl stellten unabhängige Statistiker:innen ungewöhnlich kleine p-Werte fest und fanden Muster, die nicht zu einer echten Randomisierung passten. Das Datenset enthielt ihrer Ansicht nach unplausible Werte, die Zweifel an der Authentizität der Teilnehmerdaten aufwarfen.
Im September 2025 wurde das Paper schließlich vom Fachjournal, mit Zustimmung der Autor:innen, offiziell zurückgezogen. Begründet wurde dies mit gravierenden methodischen Mängeln, darunter fehlerhafte statistische Analysen, eine fehlende prospektive Studienregistrierung sowie unzureichende Transparenz bei der Randomisierung und der Placebo-Zusammensetzung.
Die Herausgeber betonten, dass die Ergebnisse nicht mehr als verlässlich gelten und künftig nicht zitiert werden sollten. Die Studienautor:innen räumten „honest mistakes“ (ehrliche Fehler) ein, die laut eigenen Angaben beim Datenexport und durch Rundungsfehler entstanden seien. Damit wurde dem viralen Apfelessig-Trend seine eindeutigste wissenschaftliche Grundlage entzogen.
Status Quo der wissenschaftlichen Evidenz
Für die Gesamtevidenz gibt es kleinere randomisierte, kontrollierte Studien und Metaanalysen, die zwar geringe, kurzfristige Effekte auf Gewicht und Blutzucker zeigen, deren Aussagekraft aber begrenzt ist. Diese gemessenen Effekte sind im Vergleich zu medikamentösen Behandlungen oder intensiven Lebensstilinterventionen deutlich kleiner.
Eine Meta-Analyse aus dem Jahr 2025 fasst zehn randomisierte, kontrollierte Studien (RCT) mit insgesamt 789 Teilnehmer:innen zusammen. Sie beschreibt moderate, statistisch signifikante, aber klinisch eher geringe Effekte auf Gewicht, BMI und Taillenumfang.
Als mögliche Mechanismen werden eine verzögerte Magenentleerung, gesteigerte Sättigung, metabolische Effekte und eine positive Modulation der Darmflora diskutiert.
Die RCTs sind heterogen, meist kurz angelegt und weisen nur kleine Stichproben auf. Eine allgemeingültige Aussage ist daraus nicht ableitbar. Die Meta-Analyse inkludiert auch Daten der zurückgezogenen libanesischen Studie.
Keine Health Claims
Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) hat bereits 2009 entschieden, dass keine ausreichenden Belege für die behaupteten Wirkungen von Apfelessig auf Verdauung, Fettverbrennung oder Haut existieren. Daher dürfen bis heute keine entsprechenden Health Claims verwendet werden.
Auch die Verbraucherzentrale betont, dass bislang keine ausreichenden Belege für eine Wirkung auf die Insulinausschüttung oder den Blutdruck vorliegen. Ernährungsexpert:innen sehen Apfelessig daher nicht als wirksames Mittel zum Abnehmen, sondern höchstens als ergänzenden Bestandteil einer ausgewogenen Ernährung.
Wer Apfelessig dennoch in seinen Alltag integrieren möchte, sollte ihn stets stark verdünnt trinken, um Reizungen zu vermeiden. Denn die potenziellen Risiken liegen vor allem im hohen Säuregehalt: Bei regelmäßigem oder unverdünntem Konsum kann dieser den Zahnschmelz angreifen und die Entstehung von Karies begünstigen. Daher sollte direkt nach dem Trinken des Essigs nicht Zähne geputzt werden. Auch der Magen kann empfindlich reagieren. Insbesondere bei sensiblen Personen sind Sodbrennen oder Schleimhautreizungen möglich. Die Einnahme auf nüchternen Magen gilt daher als nicht empfehlenswert, da sie Beschwerden zusätzlich verstärken kann.