Platz ist in der kleinsten Hütte – und im Zweifel kann man Videosprechstunden auch in umgebauten WC-Kabinen durchführen. An der Uniklinik RWTH Aachen läuft ein entsprechendes Projekt, das von Deutschland mit einem siebenstelligen Betrag gefördert wird und ebenso für Österreich interessant sein könnte. Der Einsatzzweck ist (auch) für Krisensituationen gedacht.
Das „AcuteCare InnovationHub“ der Uniklinik RWTH Aachen entwickelt in Kooperation mit der Telemedizinfirma Doxon Clouds und einer Medizingerätefirma eine Lösung zur medizinischen Grundversorgung in Krisengebieten: Mobile Toilettenkabinen werden zu telemedizinischen Anlaufstellen umgerüstet. „Das Projekt ist aus der Idee heraus entstanden, wie man in Katastrophenszenarien – wie beispielsweise die Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 – eine medizinische Infrastruktur ersatzweise wiederherstellen kann“, erklärt Oberarzt Dr. Andreas Follmann, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin und Sektionsleiter bei AcuteCare InnovationHub.
Günstig und zweckmäßig
„Unser Ziel ist es, das Gesamtsystem so günstig zu machen, dass es am Ende fast schon ein Wegwerfprodukt ist – unter 5000 Euro“, betont Follmann. Immerhin müsse man beispielsweise bei einer Flutkatastrophe davon ausgehen, dass die Technik vor Ort leidet und gegebenenfalls nicht wiederverwendet werden könne. Außerdem stelle sich die Frage, ob man die Kabinen erst im Bedarfsfall umbaut oder in einer gewissen Anzahl vorrätig hält.
„Laut Hersteller können die Kabinen in Einzelteilen geliefert werden und sind innerhalb einer Stunde aufgebaut. Unser Technikausbau soll am Ende so modular sein, dass die Anbringung schnell zu bewerkstelligen ist.“ Das Projekt wird vom Deutschen Bund im unteren siebenstelligen Bereich als Zwei-Jahres-Projekt aus dem Bereich zivile Sicherheitsforschung gefördert.
Schnelle Ersteinschätzung möglich
Der Vorteil dieser Kabinen liegt in ihrer schnellen Aufbaubarkeit und flexiblen Einsetzbarkeit. Sie lassen sich per Lkw, Boot oder Helikopter transportieren und nahezu unabhängig vom Straßenzugang absetzen. Für einen autarken Betrieb von 24 bis 48 Stunden ausgelegt, verfügen sie über Solarpaneele und sollen künftig mit Satellitenkommunikation ausgestattet werden. Ziel des Projekts ist es, innerhalb von zwei Jahren ein System zu etablieren, das eine verlässliche medizinische Erstversorgung in zerstörten Infrastrukturen ermöglicht.
Die Patientenkabine soll eine rasche Ersteinschätzung mittels Fragebogen ermöglichen. Besteht akute Lebensgefahr, wird direkt ein Rettungsdienst oder Helikopter alarmiert. Liegt keine unmittelbare Bedrohung vor, erfolgt eine telemedizinische Verbindung zu einem Arzt. In der Kabine stehen medizinische Geräte wie Blutdruckmessgerät, Stethoskop, Pulsoximeter und Untersuchungskamera bereit. Die erhobenen Daten werden in Echtzeit übermittelt und gemeinsam mit dem Arzt ausgewertet.
Arzneimittelversorgung im Katastrophenfall
Bezüglich der Arzneimittelversorgung im Ernstfall verfolgt das Forschungsteam aktuell drei Hypothesen. Eine Möglichkeit wäre der Einsatz freiverkäuflicher Medikamente über eine Art Automatenlösung. „Das Dispensierverbot ist uns bewusst, vielleicht kann man da rechtlich für den Katastrophenfall schauen, ob eine Umsetzung gelingen könnte.“ Hierzu steht das Team im Austausch mit Apothekerinnen und Apothekern, die im Ahrtal geholfen hatten, um prioritäre Bedarfe zu identifizieren.
Wenn im Umfeld noch eine funktionierende Apotheke vorhanden ist, könnte die E-Rezept-Funktion der Kabine zum Einsatz kommen. „Das heißt, wir haben vor Ort noch irgendwo eine funktionierende Apotheke, die kann ich als Arzt beziehungsweise das E-Rezept einstellen und als Patient dann quasi mir dort meine Medikamente abholen gehen.“ Hier stelle sich noch die Frage, ob auf Verbrauchsmaterialien wie einen Drucker verzichtet werden könne.
Als dritte Möglichkeit wird auch der Einsatz von Drohnen diskutiert. „Das ist aber natürlich noch sehr Science-Fiction“, räumt Follmann ein, betont jedoch, dass solche Szenarien „perspektivisch einfach mal mitgedacht werden sollen“. Priorität haben derzeit jedoch die beiden anderen Lösungen. Ziel bleibt es, auch unter schwierigen Bedingungen eine Arzneimittelversorgung ohne bestehende Infrastruktur zu gewährleisten.
Testläufe und zukünftige Anwendungen
In Abstimmung mit Hilfsorganisationen, die während der Flutkatastrophe im Ahrtal im Einsatz waren, wurde ein möglicher Bedarf identifiziert. „Viele Menschen wollten einfach nur ein Rezept haben, um ihre Dauermedikation neu zu bekommen“, berichtet Follmann. Es seien zudem alltägliche gesundheitliche Probleme aufgetreten, die mangels erreichbarer ärztlicher Versorgung nicht adressiert werden konnten. „Die Arztpraxen sind geschlossen, weil die überflutet oder die Ärzte vielleicht selber betroffen sind. Bei uns in Aachen in der Nähe war auch damals das Krankenhaus Eschweiler von einer Flutkatastrophe betroffen, also es bricht ein ganzes Krankenhaus auf einmal aus der Versorgungskette weg.“
Der Prototyp wurde kürzlich auf dem BBK-Fachkongress „Forschung für den Bevölkerungsschutz“ vorgestellt. Erste echte Testläufe stehen noch aus. Zunächst soll er in einem Feriendorf erprobt werden, „wo Schauspielpatienten in die Kabine gehen. Wir wollen uns anschauen, was Ärzte auf der anderen Seite können müssen – können es Allgemeinmediziner oder müssen es Notärzte sein? – und natürlich auch, wie Laien mit den Medizingeräten umgehen.“ Eine weitere Studie ist für das Parookaville-Festival, einem der größten deutschen Musik-Festivals, in Weeze Ende Juli vorgesehen. „Auf dem Musikfestival wollen wir die Kabine an Patienten mit alltäglichen Problemen, wie kleineren Verletzungen, testen.“ Die Patienten gehen in die Kabine statt in die Sanitätsstation und werden dann darüber mit einem Telemediziner oder einer Telemedizinerin verbunden.
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